Unterschicht: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, sing nicht ihre Lieder…
Oktober 17, 2006 by osi
Die Zeile „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ der Bitter-Ballade von olle Franz Josef Degenhardt gewinnt dieser Tage neue Bedeutung. Die SPD hat die Schmuddelkinder entdeckt, völlig überraschend und unerwartet. Sie hat – einer Bemerkung ihres Parteivorsitzenden Kurt Beck geschuldet – jetzt eine Unterschicht-Debatte an der Backe. Unterschicht – diese Klassifizierung ist so ekelerregend politisch unkorrekt, dass manche Genossen das Un-Wort nur flüsternd aussprechen. Brechts Einheitsfrontlied ist ja noch nicht vergessen und viele Genossen in den Sechzigern singen es nach dem sechsten Rotwein oder dem 10. Pils heute noch inbrünstig und kriegen feuchte Augen.
„Und weil der Mensch ein Mensch ist,
drum braucht er was zum Essen, bitte sehr.
Es macht ihn ein Geschwätz nicht satt,
das schafft kein Essen her.
Drum links, zwei, drei! Drum links, zwei, drei!
Wo dein Platz, Genosse, ist!
Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront,
weil du auch ein Arbeiter bist“.
Ausgerechnet die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung hat entdeckt, dass es in Deutschland eine Unterschicht gibt, auch wenn sie in der Studie nicht so benannt wird. Mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland gelten als arm. Acht Prozent der Deutschen (der Anteil in Ostdeutschland liegt bei 20 Prozent) leben laut Studie „in unsicheren Arbeitsverhältnissen, prekären Lebenslagen und sozialer ,Lethargie‘ “ (Quelle: FAZ). Hubertus Heil, Generalsekretär der SPD, fällt dazu reflexartig ein, die Situation verlange nach einem „starken Staat“ und einem „stärker vorsorgenden Staat“.
Mehr Staat, mehr Fürsorge – da ist die SPD auf einer Schiene mit der PDS, deren Rosa-Luxemburg-Stiftung unter eben diesem Motto „Und weil der Mensch ein Mensch ist“ ein garantiertes Grundeinkommen für alle fordert. Der SPD-Linke Ottmar Schreiner gab gestern früh im ARD-Morgenmagazin der abgelösten rot-grünen Bundesregierung dezidiert die Mitschuld an der Entwicklung der „Unterschicht“. Unsinn, muss da Hubertus Heil sagen, auch wenn er seinem eigenen Ruf nach dem „starken Staat“ damit widerspricht, die Schröder-Reformen seien nicht die Ursache dafür, sie hätten nur „den Blick dafür geöffnet“ (Quelle: FAZ) – eine hilflose Funktionärs-Exegese. Kurt Beck, der neue SPD-Vorsitzende, nennt die Dinge zumindest beim Namen: „Es gibt zu viele Menschen in Deutschland, die keinerlei Hoffnung mehr haben, den Aufstieg zu schaffen. Sie finden sich mit ihrer Situation ab. Sie haben sich materiell oft arrangiert und ebenso auch kulturell.“ Früher habe es das elterliche Bestreben „Meine Kinder sollen es einmal besser haben“ gegeben. Es bestehe die Gefahr, daß dieses Streben in Deutschland verloren gehe.
Die bittere Pille, die dem SPD-Vorsitzenden allein mit der Formulierung „Manche nennen es Unterschichten-Problem“ von der Zunge gerollt ist, möchten Markus Heil und Franz Müntefering jetzt gern rasch unter den Teppich kehren. Besonders ärgerlich auch: Die CDU nutzt – wieder einmal! – ihre Chance zur Profilierung nicht sondern stimmt mit ein in die Ablehnung der nackten Wahrheit und ihrer zutreffenden Beschreibung. Dabei hat Kurt Beck doch nur festgestellt, was längst bekannt ist. Der Datenreport 2006 des Statistischen Bundesamtes hatte vor ein paar Wochen festgestellt, dass 10,8 Millionen Menschen in Deutschland in Armut leben. Das hatte keine nennenswerten Schlagzeilen gemacht.
Was lehrt uns das? Die Einsicht, dass Gleichmacherei nach dem Gießkannenprinzip nicht funktioniert, kommt bei der SPD (und großen Teilen der CDU) nur tropfenförmig an. Die Tatsache, dass wir mehr als die meisten Länder Europas für Soziales ausgeben und am wenigsten bewirken, ist immer noch nicht so richtig begriffen. Die „Schmuddelkinder“ der Unterschicht sind in erster Linie ein Produkt der Staatsgängelei, der üppig gewährten Hilfen von „Vater Staat“, der seine entmündigten Kinder jetzt mühsam die Selbständigkeit lehren muss.
Nachtrag, Dienstag, 17.10.: „Jeder Vierte im Osten lebt im ,abgehängten Prekrariat'“ – aus der Welt von heute. Und eine Story aus Alberta, Kanada, die zeigt, wie man mit Mut ein Land auf die Überholspur bringen kann.
Nachtrag, Dienstag, 17.10: WDR 2-Interview mit Frank Dietrich Karl, dem Studienleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung
Kommentare